EU-Wettbewerbshüter im Visier der KI-Cloud-Giganten: Was die neuen Ermittlungen für Big Tech, Börse und Wirtschaft bedeuten
Wie viel Marktmacht dürfen Cloud-Giganten bei Künstlicher Intelligenz ausspielen, bevor die EU-Wettbewerbskommission einschreitet – und was bedeutet das für Investoren in Alphabet, Microsoft, Amazon & Co.? Vor dem Hintergrund der verschärften EU-Regulierung von General-Purpose-AI (GPAI) und Cloud-Infrastrukturen rückt ein Szenario in den Fokus, das an aktuelle Verfahren gegen Google wegen der Nutzung von Online-Inhalten für KI erinnert: Die Kommission könnte einen großen Cloud-Anbieter ins Visier nehmen, der seine eigene, proprietäre KI standardmäßig in der Cloud vorinstalliert und damit konkurrierende Modelle benachteiligt. Für Anleger wären vor allem die Aktien von europäischen Cloud- und KI-Infrastruktur-Anbietern potenzielle Gewinner, während US-Big-Tech-Titel eher volatil reagieren und im Extremfall Korrekturen hinnehmen müssten.
Regulatorische Großwetterlage: EU rüstet sich für den KI-Wettbewerb
Um das Risiko eines EU-Wettbewerbsverfahrens gegen einen großen Cloud-Anbieter wegen vorinstallierter KI-Modelle einzuordnen, lohnt der Blick auf das, was Brüssel bereits umgesetzt oder angekündigt hat.
Mit dem AI Act setzt die EU erstmals weltweit bindende Regeln für KI-Systeme, insbesondere für KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck (GPAI), also große Basismodelle, die für viele Anwendungen genutzt werden können. Ab dem 2. August 2025 gelten für Anbieter dieser GPAI-Modelle harte Pflichten – von Transparenzanforderungen bis zu technischen Dokumentations- und Risikomanagementpflichten. Leitlinien der EU-Kommission zu GPAI verdeutlichen, dass insbesondere die leistungsstärksten Modelle mit „systemischem Risiko“ unter besondere Beobachtung des neuen AI Office fallen.
Parallel verfolgt die EU mit dem AI Continent Action Plan und dem geplanten Cloud and AI Development Act eine explizit industriepolitische Agenda: Europa soll ein eigener KI-Kontinent werden – mit eigenen Rechenzentren, AI-Factories und einem Binnenmarkt für Daten. Die KI-Pläne der EU-Kommission sehen Milliardeninvestitionen in KI-Infrastruktur und Cloud-Kapazitäten vor, gleichzeitig aber auch Mindeststandards für Cloud-Dienste, etwa zu Sicherheit, Interoperabilität und Nachhaltigkeit.
Diese Kombination aus Wettbewerbs-, Datenschutz- und Industriestrategie schafft den Boden für eine verschärfte Kartellaufsicht: Wenn ein dominanter Cloud-Anbieter seine proprietären KI-Modelle technisch oder wirtschaftlich gegenüber Drittmodellen bevorzugt, kann das als Missbrauch von Marktmacht bewertet werden – analog zu früheren Fällen, in denen etwa Betriebssysteme oder Suchmaschinen mit eigenen Diensten gebündelt wurden.
Von Inhalten zu Infrastrukturen: Die EU lernt aus dem Google-Fall
Ein aktueller Referenzfall ist das von der EU eingeleitete Verfahren gegen Google wegen der Nutzung von Online-Inhalten für KI-Zwecke. Die Kommission prüft, ob Google sich durch bevorzugten Zugriff auf Inhalte und durch potenziell unfaire Bedingungen gegenüber Verlagen und anderen Content-Anbietern einen Vorteil verschafft und damit andere KI-Entwickler benachteiligt. EU-Verfahren gegen Google zur KI-Nutzung von Online-Inhalten
Übertragen auf Cloud und vorinstallierte KI-Modelle ergeben sich mehrere Parallelen:
- Zugangskontrolle: Wer die Cloud-Plattform kontrolliert, kontrolliert oft auch den bevorzugten Zugang zu Rechenressourcen, Datenpipelines und MLOps-Tools.
- Vorbundelung: Wird ein proprietäres KI-Modell standardmäßig in PaaS- oder SaaS-Diensten integriert, kann dies alternative Modelle faktisch ausbremsen – auch ohne expliziten Ausschluss.
- Informationsvorsprung: Der Cloud-Anbieter sieht Trainingslast, Nutzungsmuster und Feedbackdaten über alle Anwendungen hinweg und kann damit seine eigenen Modelle schneller verbessern als Wettbewerber.
Wettbewerbshüter betrachten solche Strukturen zunehmend als Gatekeeper-Positionen, die es zu regulieren gilt. Der Digital Markets Act (DMA) war der erste Schritt bei Plattformen, der AI Act und der Cloud and AI Development Act bilden nun das regulatorische Pendant für KI-Systeme und -Infrastrukturen.
Wie könnte ein EU-Verfahren gegen einen Cloud-Konzern aussehen?
Auch wenn aktuell vorrangig Google bei der Nutzung von Inhalten im Fokus steht, ist das Szenario eines EU-Verfahrens gegen einen großen Cloud-Anbieter – etwa Microsoft Azure, Amazon Web Services (AWS) oder Google Cloud – wegen vorinstallierter proprietärer KI-Modelle durchaus realistisch. Denkbar wären folgende Vorwürfe:
- Selbstbevorzugung: Proprietäre KI-Modelle des Cloud-Anbieters werden günstiger, schneller oder mit besserer Integration angeboten als Wettbewerbsmodelle.
- Diskriminierende Konditionen: Drittanbieter von KI-Modellen müssen höhere Gebühren oder strengere technische Anforderungen erfüllen, um auf der Plattform lauffähig zu sein.
- Kopplung und Bundling: Der Zugang zu bestimmten Premium-Cloud-Diensten wird faktisch an die Nutzung des hauseigenen KI-Modells geknüpft.
Regulatorisch hätte die EU mehrere Instrumente zur Hand:
- Auflagen zur Interoperabilität und Datenportabilität für KI-Modelle in der Cloud.
- Verpflichtungen zu nicht-diskriminierenden Bedingungen für Drittanbieter-Modelle.
- Transparenzpflichten über Kostenstrukturen, Performance-Benchmarks und technische Zugangsschnittstellen.
- Im Extremfall Strafzahlungen und Verhaltenszusagen, ähnlich früherer Wettbewerbsverfahren im Digitalbereich.
Drei neue Wissenspunkte, die aktuell oft unterschätzt werden
1. GPAI-Regeln greifen direkt – ohne Übergangsfrist
Für Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck, die in der EU bereitgestellt werden, gelten die Pflichten des AI Acts ab August 2025 unmittelbar und ohne Übergangsfrist. Die Kommission macht klar, dass Compliance nicht optional ist. Das erhöht das rechtliche Risiko für Cloud-Anbieter, die proprietäre Modelle global ausrollen, aber europäische Besonderheiten unterschätzen.
Besonders relevant: Modelle mit „systemischem Risiko“ müssen beim AI Office notifiziert werden und unterliegen erweiterten Risikoanalyse- und Berichtspflichten. Das betrifft typischerweise die leistungsfähigsten Foundation-Modelle, genau jene, die Cloud-Anbieter gerne vorinstalliert anbieten.
2. Der Cloud and AI Development Act wird Minimum-Standards setzen
Der geplante EU Cloud and AI Development Act zielt nicht nur auf Förderung neuer KI-Gigafabriken ab, sondern ausdrücklich auch auf Mindestkriterien für Cloud-Dienste – unter anderem in Bezug auf Sicherheit, Interoperabilität und Nachhaltigkeit. Aktionsplan „KI-Kontinent“ der EU-Kommission
Damit rückt eine Regulierungslogik näher, die man bislang eher aus dem Energiesektor kennt: Cloud-Kapazitäten und KI-Infrastruktur als kritische Daseinsvorsorge. In so einem Umfeld sind „geschlossene“ Ökosysteme mit hart verdrahteten proprietären Modellen politisch und regulatorisch schwerer zu verteidigen.
3. Europäische Souveränitätsprojekte gewinnen an Gewicht
Neben horizontalen GPAI-Regeln entstehen zunehmend Initiativen für souveräne sektorspezifische Modelle, etwa in Industrie, Gesundheitswesen oder öffentlicher Verwaltung. Diese Modelle sollen oft als vortrainierte, aber anpassbare Basismodelle in europäischen Rechenzentren betrieben werden – mit einem Fokus auf Datenschutz, Revisionssicherheit und branchenspezifische Normen.
Für die Wettbewerbspolitik bedeutet das: Die EU hat ein eigenes Interesse daran, dass solche souveränen Modelle nicht von vorinstallierten US-Cloud-Modellen an den Rand gedrängt werden. Wettbewerbsrecht und Industriepolitik laufen hier ausnahmsweise in dieselbe Richtung.
Ökonomische Implikationen: Wer gewinnt, wer verliert?
Ein EU-Verfahren gegen einen großen Cloud-Anbieter wegen vorinstallierter proprietärer KI-Modelle wäre kein Randthema, sondern ein potenzieller Wendepunkt im KI-Markt. Für Investoren lassen sich mehrere Gruppen unterscheiden.
Potenzielle Gewinner an der Börse
- Europäische Cloud- und Rechenzentrumsbetreiber (z. B. OVHcloud, kleinere börsennotierte Colocation-Anbieter): Profitieren von politischen Rückenwinden, Förderprogrammen und der Nachfrage nach „EU-konformen“ KI-Infrastrukturen.
- Unabhängige KI-Model-Provider (Open-Source-orientiert, Spezialmodelle): Steigende Chancen, über Marktplätze oder API-Plattformen fairem Zugang zu Rechenressourcen und Kunden zu erhalten.
- Halbleiter- und Infrastruktur-Aktien mit Europa-Fokus: Ausbau von AI-Factories und Data Labs erhöht die Nachfrage nach GPUs, Speichersystemen und Energieeffizienz-Technologien.
Potenzielle Verlierer und Risikokandidaten
- Alphabet (Google): Bereits jetzt im Fadenkreuz der EU wegen der Nutzung von Online-Inhalten für KI. Weitere Verfahren – etwa im Cloud-Bereich – würden Bewertungsabschläge rechtfertigen und die Kapitalmarktstory KI-first belasten.
- Microsoft und Amazon (soweit sie ähnliche Bündelungsstrategien mit eigenen KI-Modellen in der Cloud verfolgen): Kurzfristig erhöhtes regulatorisches Risiko, mittelfristig mögliche Einschränkungen bei der Monetarisierung proprietärer Modelle.
- Stark integrierte SaaS-Anbieter, die ein einziges proprietäres KI-Modell tief in ihre Produkte eingebettet haben: Müssen bei regulatorischem Druck möglicherweise auf Multi-Model-Ansätze umschwenken, was Margen und Time-to-Market belastet.
Vor- und Nachteile für die Gesamtwirtschaft
Vorteile
- Mehr Wettbewerb und Innovation: Offene Schnittstellen und nicht-diskriminierender Zugang zu Cloud-Ressourcen fördern neue Geschäftsmodelle, spezialisierte KI-Modelle und europäische Nischenanbieter.
- Reduzierte Abhängigkeit von einzelnen Anbietern: Multi-Cloud- und Multi-Model-Strategien werden attraktiver, was die Resilienz von Unternehmen und Verwaltungen erhöht.
- Besserer Datenschutz und Governance: Durch klare Pflichten für GPAI-Anbieter und strengere Regeln für den Umgang mit Trainingsdaten steigt das Vertrauen in KI-Lösungen – eine Voraussetzung für breite wirtschaftliche Diffusion.
Nachteile
- Höhere Compliance-Kosten: Unternehmen, die KI-Systeme entwickeln oder betreiben, müssen in Dokumentation, Governance-Strukturen und rechtliche Beratung investieren.
- Verlangsamung von Roll-outs: Strengere Prüf- und Meldepflichten, insbesondere für Modelle mit systemischem Risiko, können die Markteinführung verzögern.
- Regulatorische Fragmentierung: Unterschiedliche Interpretationen durch nationale Behörden und parallele Vorgaben (DSGVO, DMA, AI Act etc.) können für Unsicherheit sorgen und Investitionen bremsen.
Strategische Optionen für Unternehmen und Investoren
Unternehmen, die stark auf einen einzelnen Cloud-Anbieter mit vorinstallierten proprietären Modellen setzen, laufen Gefahr, in eine regulatorische Schusslinie zu geraten – oder zumindest von abrupten Änderungen der Geschäftsbedingungen überrascht zu werden.
- Technische Diversifikation: Multi-Cloud-Architekturen und Containerisierung von KI-Workloads erleichtern den Wechsel zwischen verschiedenen Modellanbietern.
- Vertragliche Absicherung: Klauseln zu Datenportabilität, Audit-Rechten und fairen Zugangskonditionen gewinnen an Bedeutung.
- Regulatorisches Monitoring: Die Entwicklung rund um AI Office, GPAI-Leitlinien und Cloud and AI Development Act sollte im Risiko-Management verankert sein.
Für Investoren bedeutet das: Bewertungsmodelle für KI- und Cloud-Aktien müssen regulatorische Szenarien expliziter einpreisen, ähnlich wie im Pharmasektor, wo Zulassungs- und Haftungsrisiken seit jeher Bestandteil jeder Analyse sind.
Aus Investorensicht spricht vieles dafür, selektiv vorzugehen: Europäische Cloud- und Infrastrukturwerte sowie Anbieter unabhängiger oder offener KI-Modelle bieten strukturellen Rückenwind und können tendenziell gekauft werden, während stark integrierte Big-Tech-Cloud-Anbieter – insbesondere Alphabet/Google, aber auch Microsoft und Amazon – eher Halte- oder bei deutlichen Überbewertungen sogar Verkaufspositionen darstellen, solange die regulatorische Unsicherheit anhält. Für die Gesamtwirtschaft eröffnet ein strenger, aber innovationsfreundlich ausgestalteter Regulierungsrahmen Chancen für mehr Wettbewerb, technologische Souveränität und Vertrauen in KI, auch wenn er kurzfristig Kosten und Komplexität erhöht. In den nächsten Jahren ist mit einer Verfestigung dieses Rahmens, klareren Leitlinien für GPAI sowie einem wachsenden Ökosystem europäischer KI- und Cloud-Anbieter zu rechnen – und damit mit einer Verschiebung der Wertschöpfungsketten weg von reinen US-zentrierten, proprietären Plattformen hin zu offeneren, diverseren KI-Infrastrukturen.



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