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Bolivien wählt unter Druck: Parlaments- und Präsidentschaftswahlen inmitten der schweren Wirtschaftskrise

Bolivien wählt unter Druck: Parlaments- und Präsidentschaftswahlen inmitten der schweren Wirtschaftskrise

Bolivien steht im Jahr seines 200-jährigen Unabhängigkeitsjubiläums vor einer der kritischsten Entscheidungen seiner Geschichte: Während die Inflationsraten steigen, weite Teile der Bevölkerung von Armut betroffen sind und nach Jahren der Dominanz einer einzigen Partei, wählen die Bolivianer einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Wer kann das Land aus der Krise führen – alte Eliten, neue Gesichter oder gar bisher unbekannte politische Kräfte?

Harter Wahlkampf während ökonomischer Turbulenzen

Fast 8 Millionen Stimmberechtigte sind aufgerufen, unter wirtschaftlicher Notlage und politischer Unsicherheit ihre Stimme abzugeben. Die Wirtschaftskrise, ausgelöst durch sinkende Rohstoffpreise, Inflation und Missmanagement, hat die Lebensgrundlage vieler Menschen erschüttert. Experten des Lateinamerika-Hilfswerks warnen vor einer wachsenden Hungersnot und kritisieren, dass infolge von Fake News und sozialer Medien die politischen Debatten immer weniger von Sachargumenten und immer stärker von Stimmungsmache geprägt sind. Erschwerend hinzu kommt, dass sich viele wegen der alltäglichen Not kaum für den Wahlkampf interessieren.

Das Ende einer Ära: Die MAS-Partei vor der Abwahl?

Die regierende sozialistische Movimiento al Socialismo (MAS) steht vor einem historischen Machtverlust. Nach zwanzig Jahren politischer Dominanz und anhaltender Kritik verzichtet Präsident Luis Arce auf eine erneute Kandidatur. Die Partei schickt einen relativ unbekannten Kandidaten ins Rennen, während Ex-Präsident Evo Morales weiterhin im Hintergrund Einfluss nimmt. Laut Umfragen droht der MAS ein dramatisches Ergebnis, das im Extremfall sogar das Ende der Partei bedeuten könnte (SRF). Eine solche Entwicklung würde erstmals seit zwei Jahrzehnten den Weg für einen politischen Wechsel öffnen.

Zersplitterung statt Aufbruch: Die Kandidaten und das Wahlverfahren

Das Kandidatenfeld gilt als zersplittert: Acht Bewerber treten an, doch niemand erreicht in Umfragen mehr als ein Viertel der Stimmen. Besonders im rechten Spektrum dominieren Geschäftsmann Samuel Doria Medina (bekannt geworden durch sein Fastfood-Imperium) sowie Ex-Präsident Jorge Quiroga, die beide als Favoriten mit knappen Vorsprüngen gehandelt werden. Die Unsicherheit ist groß: Laut Wahlrecht entscheidet nur ein Ergebnis mit absoluter Mehrheit oder einer deutlichen Führungsdifferenz die Präsidentschaft im ersten Wahlgang. Andernfalls kommt es, was Experten für sehr wahrscheinlich halten, zur Stichwahl am 19. Oktober (taz).

  • Über ein Drittel der Wähler ist weiterhin unentschlossen oder will mit ungültigem Stimmzettel wählen.
  • Das Vertrauen in die Umfragen gilt als gering, nachdem in der bolivianischen Vergangenheit auf ihre Ergebnisse wenig Verlass war.
  • Mit einer Niederlage unterhalb der Drei-Prozent-Marke könnte die MAS ihren Parteinamen verlieren.

Soziale Verwerfungen, Desinformation und der Kampf ums Überleben

Während die Kandidaten um die Macht kämpfen, werden die tatsächlichen Probleme der Bevölkerung oft ausgeblendet. In den Städten herrscht wachsende Unsicherheit, in ländlichen Regionen dominiert die Armut: Menschen kämpfen mit steigenden Lebenshaltungskosten, Versorgungsengpässen und Jobverlusten. Sozialprogramme sind vielfach eingeschränkt, Hilfsorganisationen warnen vor einer Eskalation. Hinzu kommt eine Flut von Fake News, die nicht nur zu Verwirrung, sondern auch zu Resignation bei den Wählern führt (Deutschlandfunk).

  • Die Polarisierung im Land ist extrem: Der Streit zwischen früheren Verbündeten Arce und Morales lähmt die MAS.
  • Der größte Teil der Bevölkerung erwartet von der neuen Regierung keine schnellen Wunder, sondern dringend praktische Maßnahmen gegen Inflation und Armut.

Wahlsystem und institutionelle Herausforderungen

Präsident und Parlament werden gemäß Verfassung direkt vom Volk gewählt. Das System begünstigt mit seinem erforderlichen Abstand von 10 Prozentpunkten zwischen erst- und zweitplatziertem Kandidaten im ersten Wahlgang oft Stichwahlen – so auch jetzt wieder. Instabile Mehrheitsverhältnisse könnten zu schwierigen Koalitionen oder sogar zu politischen Blockaden führen.

  • Langfristige Erneuerung ist nur möglich, wenn die Sieger breite Allianzen eingehen und nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Reformen anstoßen.
  • Viele Bolivianer haben angesichts zahlreicher politischer und wirtschaftlicher Skandale das Vertrauen in Parteien und Institutionen verloren.

Die aktuellen Wahlen sind eine historische Chance für Bolivien – und zugleich ein Risiko: Ein Regierungswechsel bietet die Aussicht auf politische Erneuerung, Startup-Initiativen und internationale Investitionen. Doch der zerspaltene Wahlausgang könnte zu Blockaden und weiteren sozialen Unruhen führen. Kurzfristig werden wirtschaftliche Reformen, die die Inflation stoppen, Arbeitsplätze sichern und Versorgungslücken schließen, essenziell sein. Mittel- bis langfristig entscheiden Koalitionen, außenpolitische Öffnung und ein neues politisches Vertrauen darüber, ob Bolivien die Talsohle überwinden und wieder zu Stabilität und Wachstum finden kann. Für Unternehmen, Investoren und die breite Bevölkerung entstehen so sowohl neue Chancen als auch Risiken. Die Zukunft bleibt unsicher – aber inmitten von Armut, Desinformation und gesellschaftlicher Unruhe hoffen viele Bolivianer, dass die politische Wende auch eine wirtschaftliche Rückkehr zu Wachstum und Teilhabe einleiten kann.

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